Essen und Schlafen gehören mit Atmen zu den grundlegenden Funktionen des menschlichen Körpers.
Wer ‚Baby Schlaf‘ bei Google eingibt, erhält 23,7 Mio Treffer, für das Stichwort ‚Baby Ernährung‘ werden sogar 63,2 Mio Treffer erzielt. Nicht zufällig gibt es unzählige Bücher, Kurse und Coaching-Angebote zum Thema Schlafen und Essen.
Die zentrale Frage, die diesbezüglich viele Eltern irgendwann beschäftigt, lautet: ‚Braucht mein Kind nachts noch Milch?‘. Die Antwort darauf ist komplex und es scheint sinnvoll, erstmal beide Themen (Schlaf und Essen) getrennt zu betrachten. Im Folgenden werden ein paar Überlegungen diskutiert und die wenigen wissenschaftlichen Fakten zum Thema erläutert.
Im ersten Lebensjahr entwickelt sich der menschliche Körper rasant schnell. Ein Baby verdreifacht sein Gewicht und auch das Gehirn wächst so schnell, dass es zum 1. Geburtstag schon die Hälfte des Hirnvolumens eines Erwachsenen erreicht hat. Eine permanente Nährstoff- und Energieversorgung sichert diese Entwicklung.
In dem bekannten und sehr umstrittenen Ratgeber ‚Jedes Kind kann schlafen lernen‘ schreibt die Autorin, dass Kinder ab dem Alter von 6 Monaten nachts keine Nahrung mehr brauchen und deshalb durchschlafen können. Auch auf der Hipp-Website wird postuliert: ‚Mit drei Monaten kann das Baby nachts schon länger ohne Mahlzeiten auskommen und daher länger an einem Stück schlafen als tagsüber. Ab dem zweiten Lebenshalbjahr etwa brauchen Kinder in der Nacht keine Nahrung mehr, denn in diesem Alter pendelt sich der Hunger- und Sättigungsrhythmus beim gesunden Kind auf den Tag ein.‘ Leider fehlt auf der Website eine Quellenangabe. Hier wird also jeweils behauptet, dass Babys ab einem gewissen Alter nachts keine Kalorien mehr brauchen, woraus direkt geschlussfolgert wird, dass Durchschlafen ab dann möglich sei.
Andere Autoren wie der bekannte Kinderarzt Herbert Renz-Polster oder der amerikanische Kinderarzt Jay Gordon betonen, dass mindestens im gesamten 1. Lebensjahr sinnvoll sei, Kinder nachts weiter zu stillen. Hierbei erfüllt nächtliches Stillen nicht nur die Funktion der Energieversorgung, sondern spendet zusätzlich Sicherheit, Nähe und Vertrauen.
Kinder wachen natürlicherweise nachts mehrmals auf, z.B. beim Übergang der unterschiedlichen Schlafphasen. Viele Male schlafen sie dabei von alleine wieder ein. Doch häufig brauchen sie Hilfe. Die moderne Schlafforschung zeigt, dass vollgestillte Kinder vor allem in den ersten 6 Monaten, aber auch darüber hinaus, häufiger aufwachen als Flaschenkinder, noch häufiger, wenn sie im elterlichen Bett schlafen. Über die Vor- und Nachteile des Stillens könnte man demnach einen separaten Artikel schreiben.
Tatsächlich wachen Kinder auch im 2. Lebensjahr noch mehrfach auf. Erst mit ungefähr 3 bis 4 Jahren wird das Schlafmuster so gefestigt, dass ein zuverlässiges nächtliches Durchschlafen möglich wird. Übrigens nimmt ab jetzt auch die Geschwindigkeit des Hirnwachstums ab.
Kurzum: Nächtliches Aufwachen vor allem in den ersten 2 Lebensjahren ist völlig normal. Manche Kinder brauchen mehr, andere weniger Hilfe, um wieder in den Schlaf zu finden und Eltern gehen unterschiedlich damit um. Es gibt sicherlich Methoden, um Kindern frühzeitig ‚beizubringen‘, allein wieder einzuschlafen. Je nach Methode sind diese umstritten.
Anfangs werden Babys, die nachts wach werden, fast ausnahmslos gestillt oder gefüttert. Das ist auch gut so, denn besonders in den ersten Lebensmonaten ist ganz klar, dass das Kind Nahrung braucht. Ungefähr mit Etablierung der Beikost kommt bei vielen Eltern die Frage auf: ‚Braucht mein Kind denn jetzt nachts noch Milch?‘. Diese Frage geht irgendwann über in ‚Ab wann braucht mein Kind nachts keine Milch mehr?‘
Analog zu allen anderen Aspekten der kindlichen Entwicklung ist auch das Essen und Schlafen bei jedem Kind ein eigener und individuell zu betrachtender Prozess, was pauschale Aussagen unmöglich macht.
Theoretisch nimmt ein Baby, das bereits 3 Breie und eine Milchmahlzeit täglich zu sich nimmt, genug Energie zu sich, um den Tagesbedarf an Kalorien zu decken. Aufgrund der hohen Wachstumsrate des Gehirns könnte es sinnvoll sein, zumindest über die Dauer des gesamten 1. Lebensjahres die Nährstoffzufuhr auch nachts aufrecht zu halten. Ob es darüber hinaus entwicklungsbiologisch Vorteile bietet, auch nachts Kalorien zuzuführen, ist nicht geklärt. Wissenschaftlich gesichert ist der kausale Zusammenhang zwischen erhöhtem Kariesrisiko und nächtlichen Flaschenmilchmahlzeiten, was wiederum gegen nächtliches Füttern spricht.
Gleichzeitig empfiehlt die WHO Stillen nach Bedarf bis zum 2. Geburtstag oder darüber hinaus. Tatsächlich erhöht auch nächtliches Stillen das Kariesrisiko, was aber im Vergleich zu anderen begünstigenden Faktoren (Dauernuckeln, Konsum zuckerhaltiger Getränke) nur einen sehr geringen Einfluss hat.
Auch der renommierte Kinderarzt Prof. Koletzko, dessen Forschungsschwerpunkt im Bereich von Stoffwechsel- und Ernährungsfragen bei Kindern liegt, bestätigt, dass es ‚keine einfachen und allgemeinverbindlichen Antworten‘ auf die hier diskutierten Fragen gibt und keine ihm ‚bekannte belastbare Evidenzbasis. Entsprechend (beruhen alle Empfehlungen) lediglich (auf) Erfahrungswissen auf dem Niveau der individuellen Expertenmeinungen.‘
Abschließend zumindest eine Handvoll Empfehlungen:
- Stillen nach Bedarf und so wie es Mutter und Kind gut tut bleibt sinnvoll.
- Nächtliche Flaschenmahlzeiten sollten gegen Ende des 1. Lebensjahres klar reduziert und im Laufe des 2. Lebensjahres eher abgeschafft werden.
- Ab dem 2. Lebensjahr brauchen Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit nachts keine Kalorien mehr, um körperliche Entwicklungsfunktionen aufrechtzuhalten.
- Kinder, die nachts aufwachen, können lernen, auch ohne Nahrung wieder in den Schlaf zu finden. Das sollte frühestens mit ca 10 Monaten geübt werden.
- Von Schlaftrainigsprogrammen, bei denen Kinder sich selbst überlassen werden, ist ganz klar abzuraten
- Kinder nie alleine schreien lassen, sondern in jedem Entwicklungsschritt liebevoll begleiten und ihnen körperliche Nähe schenken.
Jedes Kind ist anders und braucht individuelle Begleitung. Es ist unsere Aufgabe als Eltern, unseren Kindern eine so angenehme Schlafatmosphäre zu bereiten, dass unsere Kinder darauf vertrauen können, auch nachts nicht alleine gelassen zu werden, sondern wohlbehütet zu sein.
Zum Abschluss hilft vielleicht die folgende Perspektive: Auch die anstrengendste Nacht ist am Morgen vorbei und schneller als wir gucken können, sehnen wir uns an die Zeiten zurück, in denen wir noch mit unseren Kleinen im Bett gekuschelt haben.
Quellen:
Goodlin-Jones BL, Burnham MM, Gaylor EE anders TF.: Night waking, sleep-wake organization and self-soothing in the first year of life. J Dev Behav Pediatr. 2001 Aug;22(4):226-33.
Rabeneltern.org: Besser schlafen im Familienbett. Das sanfte Schlafprogramm nach Dr. Jay Gordon.
Kinder verstehen von Herbert Renz-Polster
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